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Bahn-Card für einen Chorliteratur–Transportbehälter

Von Willi Poß

Gemeint ist eine nach reiflicher Überlegung und wohldurchdachter Auswahl gefüllte Notentasche, die an einem schicksalsschweren Sonntag in den 50er Jahren gänzlich unfreiwillig und kindlich unschuldig auf eine ausgedehnte kostenlose Bahnreise durch die Eifel geschickt wurde.

Eigentlich sollte mit diesem Beitrag ein hehres Loblied, eine würdige Hymne auf die verantwortungsvolle Tätigkeit eines Notenwarts entstehen, und genau besehen, ist dies auch gelungen, drückt man bei der versehentlich begangenen menschlichen Schwäche des betroffenen, seinerzeit über viele Jahre bewährten Notenwartes des Männerquartetts, Franz Brantzen, ein Äuglein zu.

Eine präzise Berufsbeschreibung für Notenwarte steht bei der Bundesanstalt für Arbeit bis heute aus, weil wahrscheinlich die gesellschaftspolitische und soziale Bedeutung dieses allseits unterschätzten Berufszweiges noch immer nicht erkannt worden ist. Notenwarten fehlt zudem jene gewerkschaftliche Lobby, und so ist es nicht verwunderlich, dass jeder, angefangen beim berühmt-berüchtigten Starsänger bis zum lückenfüllenden Chorstatisten, sich befugt glaubt, jene aufopferungsbereiten und gestressten Sangeskollegen – hier ist das Wort „…brüder“ total unangebracht – bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu kritisieren. Um es kurz und prägnant zu sagen: In der „Hackordnung“ eines musiktreibenden Vereins rangiert der Notenwart leider immer noch ganz unten. Neuwahlen des Vorstandes ziehen sich bei der Vergabe dieses Amtes immer in die Länge, weil so gut wie niemand, oder nur ein unter dem Einfluss eines gewissen Alkoholspiegel Stehender, sich zur Übernahme dieses arbeits- und zeitaufwendigen Amtes bereit erklärt. Soweit der kurze theoretische, auf praktischen Erfahrungen basierende Exkurs zum Themenkomplex Notenwart.

Das Sängerfest des Kreises Bitburg fand im oben erwähnten ereignisreichen Jahr in Erdorf statt. Wohlvorbereitet bestiegen 16 Sänger des Urquartetts am frühen Sonntagnachmittag den Nahverkehrszug und erreichten nach kurzer angenehmer Reise 3. Klasse den Nachbarort. Besondere Vorfälle haben sich auf dieser Fahrt wohl keine ereignet, die Chronik verzeichnet nichts dergleichen.

Ein Kreissängerfest war damals der Höhepunkt im Vereinsgeschehen eines Jahres und endete stets mit einem, des öfteren zeitlich recht ausgedehnten, geselligen Teil. Erdorf, schon immer bekannt durch seine Gastfreundschaft und bestens sortierten Gastwirtschaften, war den Sängern aus Kyllburg einige Stunden Aufenthalt wert. In weiser Voraussicht hatte Notenwart Franz ein ganzes Sortiment von Zugaben, Thekenliedern und anderen gesanglichen Ohrwürmern in seiner Notentasche verstaut, die man im Anschluss an die Pflicht als Kür in diversen Lokalitäten zum besten gab. Wie es sich denken lässt, war dieses „Postludium“ keine „Trockenübung“, und als die Stimmung ihren Höhepunkt erreicht hatte, war es höchste Zeit, sich zum Bahnhof zu begeben, wollte man den letzten Zug Richtung Kyllburg noch erreichen. Das scheint allen gelungen zu sein, Verluste wurden keine festgestellt. Der Zug lief, wie es sich gehört, pünktlich ein, zockelte die 4 km durch Kylltal und Tunnels und erreichte den Heimatbahnhof gegen 23 Uhr. Eine Reise macht durstig: Die Bahnhofsgaststätte hatte noch geöffnet! Wer wollte es den 16 wackeren Sängern nach einem überaus erfolgreichen strapaziösen Tag verdenken, wenn sie noch einen (oder zwei) zur Brust nahmen? Man stieg schneller aus als ein; man wollte den Zug nicht länger als notwendig aufhalten, dieser setzte sich auch sogleich in Richtung St. Thomas in Bewegung.

Zu einer geselligen Sängerrunde gehört ein fröhliches Lied! Dirigent Enders ordnete die Verteilung von Notenblättern an, Notenwart Franz gehorchte bereitwillig, besser gesagt, er wollte, hätte er seine Notentasche gefunden. Bald wurde es zur schrecklichen Gewissheit: Unsere Notentasche liegt im Zug und reist herrenlos in die weite Welt. Wir wollen unerwähnt lassen, was unser lieber Notenwart an „Schmeicheleien“ zu hören bekam; soviel sei gesagt, dass mancher den finanziellen Ruin des Vereins bereits in greifbare Nähe gerückt sah, stellten Tasche und Inhalt doch ein beträchtliche Vermögen dar.

Guter Rat war (nicht) teuer! Sangesbruder Matthias Krämer (genannt „Schramm“), im Hauptberuf Befehlshaber über ein Eisenbahnstellwerk, half sachkundig aus der katastrophalen Patsche: „Leute! Das werden wir gleich haben, net woahr net!“ Als einziger unter den Sängern war er befugt die Diensträume des Bahnhofspersonals zu betreten. Dort stöberte er den noch anwesenden dienstbeflissenen Bahnhofsvorsteher Johann Müller auf, einen hochdekorierten, einflussreichen Beamten von königlich-preußischem Schrot und (Doppel-)Korn.

Nun begann eine, in der Geschichte des Kyllburger Bahnhofs bis dahin beispiellose, generalstabsmäßig geplante Aktion zur „Ergreifung des sächlichen Reiseobjekts ohne gültigen Fahrschein“; Telefone wurden heißgekurbelt, das gesamte Personal der Bahnhofsstationen zwischen Kyllburg und Köln-Deutz aufgeschreckt, sämtliche Waggons und Abteile 3. Klasse des betreffenden Zugs durchsucht, der sich mittlerweile auf dem Streckenabschnitt Dahlem-Blankenheim bewegte, endlich kam von der Bahnstation Köln-Süd die langersehnte Erfolgsmeldung: Die berüchtigte Tasche, die für einigen Wirbel im Betriebssystem der Bundesbahn gesorgt hatte, war entdeckt und identifiziert worden. Am frühen Montagmorgen wurde sie am ersten Zug, der aus Richtung Köln einlief, von Franz Brantzen erleichtert in Empfang genommen.

Nachschrift: Die Behauptung, jener Eisenbahnzug hätte daraufhin den Namen „klingender Eifelländer“ erhalten, ist lediglich ein Gerücht, das sich aber bis heutzutage hartnäckig gehalten hat.

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